Euthanasie und Lebensvernichtung im III. Reich
am Beispiel der
Landesheilanstalt Haina

Die Gemeinde Haina-Kloster liegt wie Battenberg im südlichen Teil des Kreises Waldeck-Frankenberg, im Kellerwald, ca. 25 km entfernt. Trotz des räumlichen Abstandes verbinden jedoch die Geschehnisse in der sog. Heil- und Pflegeanstalt Haina während der Nazi-Zeit inhaltlich sehr mit den vorangehenden Kapiteln des Gedenkportals Battenberg. Auch hier geht es um Opfer des NS-Regimes, deren auf diese Weise gedacht werden soll.

Der im Folgenden verwendete Begriff Euthanasie meint die Vernichtungsaktion der Nazis gegen "unwertes Leben" im Sinne der "NS-Rassenideologie", wonach psychisch Kranke/Behinderte, die in die Landesheilanstalten (=>LH) verbracht wurden, als "Schmarotzer an der Gesamtheit" anzusehen sind, als "Schlacken der menschlichen Gesellschaft" eingestuft, "deren erbliche Anlagen nur auf dem Wege der Ausmerze aus dem Fortpflanzungsprozeß ausgeschieden werden können." (Adolf Hitler, Mein Kampf)

Die NS-Verantwortlichen sprachen nicht nur von Euthanasie. Sie gebrauchten gerne die Formulierung "Vernichtung unwerten Lebens". Denn sie ließen keineswegs nur 'Geisteskranke' töten, sondern auch jene, die "keinen Nutzen versprachen" (="Asoziale", Trinker, Hilfsschüler ...) (1)

 

Das gotische Klostergelände von Haina gilt als das älteste psychiatrische Krankenhaus Deutschlands. Die Stiftungsurkunde von 1533 bestätigt die Umwandlung des alten Zisterzienserklosters (vermutlich 1184 gegr.) in ein Hospital.

Während der NS-Zeit war die "Landesheilanstalt" Haina (wie sie damals amtlich bezeichnet wurde) nachweislich in das Problem der Euthanasie involviert.

Manfred Klüppel von der Gesamthochschule Kassel hat 1984 eine sorgfältig recherchierte Studie über die Aktivitäten der LH Haina (sowie der LH Merxhausen bei Bad Emstal) im 3.Reich veröffentlicht.(2) Besonders auf diese Arbeit stützt sich dieser Beitrag.

Die Aufnahmebücher der LH Haina bezeugen, daß ab 1934 an angeblich unheilbaren Patienten Zwangssterilisationen veranlaßt wurden, und zwar aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (=Sterilisationsgesetz) vom 14.6.1933 (ca. 200.000 bis 350.000 Personen im Deutschen Reich wurden somit sterilisiert.)

Die Ermordung psychisch Kranker und Behinderter als "rassenhygienische" und volkswirtschaftliche Maßnahme fand im Wesentlichen in den Jahren 1940/41 im Rahmen dreier Aktionen unter dem Tarnnamen "T4" statt. Bis August 1941 fielen "T4" ca. 80.000 Erwachsene zum Opfer. Allein aus den LH Haina und Merxhausen betraf das 400 Patienten, von denen keiner dorthin zurückkam.

Die Vernichtung "unwerten Lebens" mittels dieser Aktionen stellt den Auftakt zur "Endlösung der Judenfrage" dar; eine Kontinuität des Personals von den ersten Tötungsanstalten in Deutschland (z.B. Hadamar bei Limburg/Lahn) zu den Vernichtungslagern in Polen (z.B. KZ Auschwitz) ist nachweisbar. So wurden in Hadamar ab Januar 1940 die Patienten in als Duschräume getarnten Gaskammern ermordet. Ärzte, Helfer u.a. dieser Tötungsanstalten mußten - nach Einstellung von T4 im August 1941 - in den KZs ihre Erfahrungen in der "Reinigung des deutschen Volkskörpers von minderwertigem Erbgut" in der "Reinigung Europas von minderwertigen Rassen" ( also vor allem Juden und Sinti/Roma ) einbringen.

1937 erfolgte eine größere Verlegungsmaßnahme von Patienten aus privaten/kirchlichen Anstalten (z.B. Hephata-Treysa, Bethel bei Bielefeld) in die staatlichen Einrichtungen Haina, Merxhausen und Marburg (insgesamt 385 Patienten und Patientinnen).

Bei M.Klüppel kann man aus Statistiken vor allem den finanzwirtschaftlichen Hintergrund dieser Verlegung erkennen: Auf Kosten der geistig Kranken/Behinderten mußte gespart werden! Immer weniger Pfleger - zum Teil schlecht qualifizierte "Hilfspfleger" - mußten die Insassen der LH betreuen. Die ohnhin mangelhafte räumliche Ausstattung der LH Haina und Merxhausen verschlechterte sich in den Kriegsjahren durch die Einrichtung von Reservelazaretten zunehmend (im 1.Halbjahr 1940: 1238 Patienten in Haina).
Ein Vergleich der Verpflegungsgebühren im Zeitraum Oktober 1933 bis April 1937 verdeutlicht die ständige Herabsetzung der Pflegekosten in allen Verpflegungskategorien, (s.bei Klüppel, S.18f.)

Hungerkost und schlechte räumliche Verhältnisse förderten die Sterblichkeitsrate. Man könnte von einer "Hunger-Euthanasie" sprechen. Todesursachen wurden gegenüber den Angehörigen bewußt geschönt. (Aus Marasmus, also Auszehrung, und TBC wurden Kreislaufinsuffizienz und Pneumonie).

 

Schicksale einzelner Gruppen

Die Tötung von jüdischen Patienten in Haina und Merxhausen

Für die Vernichtung der jüdischen Anstaltsinsassen wurde ein Sonderprogramm durchgeführt (3). Demnach wurden am 25.9.1940 alle "Volljuden" der genannten "Heilanstalten" durch das Anstaltspersonal in die hessische Sammelanstalt Gießen gebracht, und zwar aus Haina 30, aus Merxhausen 13 Patienten. Der genaue Tötungsort der jüdischen Patienten ist bis heute nicht bekannt. Nach E. Klee dürften diese jüdischen Patienten ins ehemalige Zuchthaus Brandenberg gekommen sein. Man sperrte sie zunächst in Zellen ein und führte dann Gruppe für Gruppe - zuerst die Kinder und Frauen - anschließend zum "Baden", d.h. ins Gas (4).

 

Das Schicksal der in Haina untergebrachten psychisch erkrankten polnischen und russischen Zwangsarbeiter

Ihr Schicksal ist recht spärlich dokumentiert, die "Buchführung" war nicht so peinlich genau wie bei den Morden an deutschen Patienten. Die Gesamtzahl dieses Personenkreises ist somit nicht mehr festzustellen. Für die LH Haina können folgende "Verlegungen" nachgewiesen werden: am 1.3.1943 wurde ein polnischer Arbeiter "ungeheilt nach Polen" überführt, am 11.1.1944 wurden drei Polen und ein Russe "in eine Anstalt in die Heimat", am 22.9.1944 zwei Russen "verlegt", letztere nach Hadamar. (Quelle: Aufnahmebuch der LH Haina)

"Gedeckt" waren diese "Verlegungen" durch entsprechende Erlasse der Reichsregierung, die die möglichst unauffällige Liquidierung in Sammellagern u.a. zum Ziel hatten.

Auf dem Hainaer Friedhof befindet sich ein Gedenkstein mit der Inschrift:
"Hier ruhen russische Kriegs- und Zivilgefangene, Opfer des Weltkrieges 1939-1945."
Vor dem Gedenkstein sieht man noch in einer Reihe 32 kleine Grabsteine mit den Namen der Russen, die 1939-45 in der LH Haina verstorben sind. Bis auf eine Ausnahme dürften sie Insassen des Hainaer Kriegsgefangenen-Lazaretts gewesen sein. Die Todesursachen, die in einer Liste aufgeführt sind, sprechen für sich und geben Aufschluß über die katastrophale Situation im genannten Lazarett. U.a. werden als Todesursache Entkräftigung bzw. Erschöpfung, Magen-Darm-Katarrh oder Herzschwäche genannt. Klüppel meint, daß auf dem Hainaer Friedhof wesentlich mehr Russen beerdigt worden seien (a.a.O.,67).

 

Die Verschleppung von straffällig gewordenen Hainaer Patienten in das KZ Mauthausen

Am 2.4.1944 wurden 17 Hainaer Patienten, die nach § 42 b StGB *) eingewiesen waren, nach Mauthausen gebracht. Lediglich zwei Patienten davon sollen überlebt haben; über das Schicksal der restlichen Patienten geben die Krankengeschichten (im Archiv des Psychiatrischen Krankenhauses Haina vorhanden) keinerlei Auskunft.

Erschreckend sind die Angaben im Hainaer Aufnahmebuch über die 'Krankheitsformen' der hier erfaßten Patienten: "Vater starker Trinker, Fürsorgezögling, 2x sitzengeblieben, Psychopath, angeborener Schwachsinn ..." (nach: Klüppel, 59f.).

*) zum Tode bzw.lebenslangem Zuchthaus verurteilt

Haltung der Hainaer Bevölkerung und der Anstaltsleitung

Es sei angemerkt, daß die Verlegungsaktionen von Patienten (s.o.) von den Dorfbewohnern in Haina beobachtet werden konnten. Die Hainaer Patienten wurden jeweils mit Anstaltslastwagen zur 8 km entfernten Bahnstation in Gemünden/Wohra gefahren. Nach der Auflassung der Gräber der vor 1945 gestorbenen Anstaltsinsassen auf dem örtlichen Friedhof sollen sich viele Hainaer "schamlos" der Grabplatten bedient haben, um sie z.B. als Baumaterialien in ihren Gärten zu benutzen. (5)

1987 begann das Krankenhaus den Ortsfriedhof in jenem Teil, wo die gestorbenen Patienten aus der NS-Zeit begraben worden waren, neu zu belegen. Nicht angetastet wurde übrigens die Grabstelle eines SS-Rottenführers(!). Ein Teil der abgeräumten Grabplatten wurde auf dem Friedhofsgelände und rund um die Leichenhalle als Wegbegrenzung neu genutzt. Eine von der Fraktion der "Grünen" im hessischen Landtag angemahnte Abräumaktion wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen (zu dieser Zeit zuständig für die Hainaer Anstalt) wieder eingestellt.

Die Spitze des LWV 1988: eine Beteiligung der LH Haina an der Euthanasie sei nicht belegbar; die Hainaer Kranken/Behinderten seien an "außerordentlich ungünstigen Lebensbedingungen" gestorben, seien somit nicht als Opfer der NS-Herrschaft anzusehen.
Dennoch wurde auf Weisung des LWV Hessen 1989 eine Gedenktafel auf dem Waldfriedhof der Gemeinde Haina angebracht. Inschrift:
"Zur Erinnerung an die hilflosen Kranken, die in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 hier starben. Ihr Tod ist uns Mahnung und Verpflichtung." (6) (7)

Trotz allem: Die Hainaer Patienten litten qualvoll als Opfer einer unwürdigen "Verwahrung", oft mit dem staatlich gewollten Tod durch Hunger, um "unwertes Leben" zu vernichten. (5)

In Ermittlungen gegen die Direktoren der Landesheilanstalten Marburg, Haina u. Merxhausen aus den Jahren 1946/47 und 1961 vor den Landgerichten Marburg u. Kassel, die alle eingestellt wurden, ergab sich eine Haltung, die stellvertretend durch die Aussage des Marburger Direktors belegt werden kann:
"Ich habe mir zwar damals aus ethischen und religiösen Gründen auch die Frage gestellt, ob es nicht unter den gegebenen Umständen für mich notwendig sei, meine berufliche Verbindung mit der Landesheilanstalt zu lösen. Wäre ich wirklich damit allen Gewissenskonflikten entrückt worden, dann hätte mir ein relativ einfacher Weg offen gestanden, wenn ich mich als Arzt in die Wehrmacht hätte übernehmen lassen. ... Die Folge wäre dann allerdings gewesen, daß unter einem neuen Anstaltsleiter die Kranken in sehr viel höherem Maße gefährdet gewesen wären."

Bericht des 'Betriebsarztes' der Aktion T4, Curt A. Runckel, vom 3o.6.1944:
"... Ich frage überall in den Anstalten die leitenden Ärzte nach Therapie und auch, was das Problem der Euthanasie anbetrifft, und habe bisher ... für eine aktive Tätigkeit in dieser Richtung" (gemeint ist die Tötung von Patienten durch Spritzen oder Überdosierungen von Medikamenten) "keine Liebe gefunden, weder in Haina, noch in Merxhausen ... Was mich immer wieder erstaunt, ist die einerseits ablehnende Haltung vieler Direktoren gegenüber der Sterbehilfe, andererseits die selbstverständliche Billigung der verminderten Ernährung unheilbarer Geisteskranker ..." (8)
Diese Haltung nennt man heute auch 'kalte Euthanasie'!

Bemerkenswert ist die Kontinuität der Anstaltsleitung:
Der Direktor des Hainaer Heil- und Pflegeanstalt, Erich Zeiß (1886-1971), war zwar durch die Verlegungstransporte zu Tötungsstätten in den Kriegsjahren in das faschistische Programm des Krankenmordes eingebunden, von 1948 bis 1952 konnte er nach seiner Entnazifizierung (wie viele andere) in seiner Funktion bleiben. Christina Vanja (beschäftigt beim LWV Hessen) entlastet ihn sogar: Z. habe immerhin 233 Patienten (= ca. 30% der Insassen) von Transporten in die Gaskammer zurückstellen lassen, weil sie in Haina als Arbeitskräfte benötigt worden seien. (9)

 

 

Frankenberg, 10.04.2017

 

Hinweis:
Eine Namenliste einiger Hainaer Opfer findet sich hier unter >>Umfeld/Oberes Edertal

 

Zusätzliche Literatur

In diesem Portal beschränken wir uns auf den südlichen Teil des Landkreises Waldeck-Frankenberg, zumal für die übrigen Kreisteile bereits etliche Dokumentationen, Untersuchungen, Listen vorliegen, etwa in nachfolgend genannten Publikationen; s. insbes. (6).

 
  1. Katalog zu Ausstellung "Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke" im Bonhage-Museum Korbach 2009/10
    (Katalog enthält etwa 500 Namen von Euthanasie-Opfern aus dem Landkreis Waldeck-Frankenberg; v.a. Hainaer Opfer; für 5 € im Museum zu erwerben.)
     
  2. Gedenkportal Korbach für die NS-Opfer 1933-1945
    (darin: Von der NS-Euthanasie zur "Endlösung" von Dr.Marion Lilienthal)
     
  3. U.George, G.Lilienthal, K.Roelcke, P.Sandner, Chr.Vanja (Hg.):
    HADAMAR. Heilstätte Tötungsanstalt Therapiezentrum. Marburg 2006
     
  4. Christina Vanja: Psychiatriemuseum Haina. Imhof-Verlag Petersberg 2009
    (darin: Landesheil- u. Pflegeanstalt Haina 1900 - 1953 (S.79-93)
     
  5. Beiträge in "Hessisch-Niedersächsische Allgemeine/Frankenberger Allgemeine" (=HNA):
    HNA 4.9.2009: K.-H.Völker, Zur Ausstellung in Korbach (s."1")
    ders., 12 Gedenk-Orte mahnen in Hessen (darin: Gedenktafel auf dem Waldfriedhof zu Haina: s.o.)
    HNA 14.7.2008: A.Böttcher, Mit grauen Bussen in den Tod.
    ders., Es traf vor allem Kranke und Schwache (zu Zwangssterilisation)
    H.Hecker, Das Opfer Rudolf Diloff. Jüdische Patienten wurden umgebracht.
     
  6. K.-H.Stadtler, Auf Omas Geburtstag fahren wir nach P.... Korbach 2013, S.427ff.(Lit.-Liste)
    (und vgl. Totenliste S.410ff.)
     
  7. H.Hecker, Jüdisches Leben in Frankenberg. Frankenberg/Korbach 2011
     
  8. Ausstellungstafeln zur Ausstellung des Battenberger Geschichtsvereins "Jüdische Schicksale aus unserer Region" 2011
    im Internet unter www.geschichtsverein-battenberg.
     

 

Fußnoten

  1. Vorwort zu: Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt 1983ff. > zurück z.Text (1)

  2. Manfred Klüppel, "Euthanasie" und Lebensvernichtung am Beispiel der Landesheilanstalten Haina und Merxhausen. Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945. Hg.Gesamthochschule Kassel, Fachbereich l und 5, 3.berichtigte Auflage Kassel 1985 > zurück z.Text (2)

  3. Klüppel, a.a.O., S.28 > zurück z.Text (3)

  4. Klee, a.a.O., S.258ff. > zurück z.Text (4)

  5. entnommen aus: E.Klee, Schamlos abgeräumt, in: ZEIT-online 2.12.1988. > zurück z.Text (5)

  6. Abbildung des Mahnmals im Internet : Wikipedia "Haina zur Zeit des Nationalsozialismus". > zurück z.Text (6)

  7. Gedenkstein in Haina (s. HNA 4.9.2009) auf dem Gelände des PK Haina seit 2008/09 (vom LWV Hessen veranlaßt).
    Inschrift:
    Wir erinnern uns der Patienten der Landesheil- und Pflegeanstalt Haina. Ihr Leben galt den Nationalsozialisten als "lebensunwert".
    • Ab 1937 bis 1945 verschlechterten sich die Lebensbedingungen drastisch, viele Patienten starben.
    • 1940 wurden 30 jüdische Patienten abtransportiert und an einem unbekannten Ort ermordet
    • 1941 kamen etwa 450 Patienten nach Hadamar und wurden dort Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen
    • 1944 wurden 17 nach den NS-Gesetzen straffällig gewordene Patienten in das KZ Mauthausen verlegt
    Leben und Tod dieser Menschen sind uns Mahnung und Verpflichtung

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  8. aus: M.Klüppel, a.a.O., S.52f. > zurück z.Text (8)

  9. Chr.Vanja, Psychiatriemuseum Haina. Imhof. Petersberg 2009,88 > zurück z.Text (9)